Die Marienkapelle zu Melchingen
(Erschienen 1969 anlässlich 200 Jahre Pfarrkirche St. Stephan )
Vom Kirchplatz in Talheim kann mühelos die Albhöhe erwandert werden. Oben auf der Rampe geht der Blick in die Weite und die Breite; da ist Wasser und Himmel, Gras und Wald und dunkel gepflügtes Feld. Man ist ja in einem flachen Hochtal, dem Quellgebiet der Lauchert. Auch ein paar Dörflein lassen sich sehen. Eine gepflegte Straße wird ein sicherer Führer in eine solche Menschensiedlung; sie führt nach Melchingen. Vor dem westlichen Dorfeingang fliegt dem Wanderer ein Gruß entgegen von einem kleinen Heiligtum, das von drei Linden beschirmt und durch die Eintragung in das staatliche Denkmälerbuch gehütet wird. Es ist die Kapelle von Melchingen. Was melden über sie alte Urkunden und Berichte? Sie geben uns Bescheid : Joseph Deuber war Pfarrer in Melchingen 1722 – 1740; sein schmiedeisernes Grabkreuz hat sich bis heute auf dem Friedhof erhalten. Sein Sorgenkind war die alte und baufällige Dorfkirche; gerne hätte er einen Neubau ausgeführt; aber die notwendigen Voraussetzungen waren noch nicht gegeben. Diese Aufgabe und Arbeit überläßt er seinem Nachfolger. Der fromme Herr will aber doch ein Andenken hinterlassen : er realisiert den Neubau einer Marienkapelle, da solche Heiligtümer damals zum Inventar einer christlichen Gemeinde gehörten. Nach Absprechung seines Planes mit dem erfahrenen und ehrsamen Michael Bauss, Baumeister in Stetten u. H. kommt am 2. Februar 1735 ein Accord zustande“ wegen Erbauung einer neuen Kapelle“. Der „Riß“ von Meister Bauss wird vorgelegt; es wird darüber verhandelt. Die Maurerarbeit übernimmt er selber. Er hat den Bau zu erstellen und „innen und außenwendig nicht nur obenhin, sondern dauerhafft für Wind und Wetter zu bestehen und gänzlich und zwar in einem Sommer in vollkommenen stand zu stellen. Er, der Meister, ist verbunden, einen eigenen Mörtelmacher zu haben, den Kalch abzulöschen, bei dem Fundamentgraben dabey zu sein, gutte Maurergesellen zu halten, nicht nur Buben, die um ein geringes, aber nicht akkordmäßig arbeiten.“ Er erbietet sich, die Arbeit um 99 Gulden zu übernehmen.
Sobald die Frühlingswinde 1735 über die rauhe Alb streichen, sorgt man sich um Arbeiter und Material. Bauholz wird erworben von der Gemeinde Stetten u. H., das der Zimmermann Andreas Maichle bearbeitet. Dann sind am Bau tätig : Jerg Hirlinger (Glaser) – Balthasar Wild (Schreiner im Kloster Mariaberg) – Paul Schön hart (Gybser von Tübingen) – Hans Jerg Weiz (Schmied) Michel Schantz (Nagelschmied) -Nikolaus Schoser (Schreiner) Hans Martin Hau (Schlosser) – Ziegelwaren und Kalk wird bezogen von den Ziegeleien in Trochtelfingen, Burladingen und Erpfingen, viele „Truchen“ Sand kommen von Ringingen und Stetten.
Vom Baubeginn wird in einer alten Urkunde berichtet :
„ Pfarrer Joseph Deuber hat im Jahre 1735 die Kapelle ohne Ordinariatsbeschluß und ohne bischöflichen Consens aus besonderer Devotion erbauen lassen“. Er machte keinen Kniefall vor dem hl. Bürokratius.
Nahe bei dem Westgiebel wächst aus dem Kapellendach ein Türmlein hoch, für welches Leonhard Rosenlecher, Konstanz, eine gestiftete Glocke (112 Pfund) gegossen hat, die ein Fuhrmann von Winterlingen um zwei Gulden nach Melchingen brachte. Inzwischen wird da rührig geschafft : Zwei starke Eichen werden beschlagen zur Aufnahme des Glockenstuhls; der Turm wird „ausgetäffert“ und sechseckig verbrettert mit 16 eichenen Dielen; zwei Schallöffnungen werden eingeschnitten, auf daß die Glockenstimme vernehmbar werde. Nach oben ist der Turmabschluß eine welsche Zinkhaube und ein Schmiedeisenkreuz.
Hundert Jahre ungefähr hatte man seine helle Freude an der Kapelle. Dann meldet der bischöfliche Werkmeister Hanner : Oer westliche Giebel ist so stark ausgewittert, daß schon die Steine ausfallen; daß Dach ist schadhaft und muß neu eingedeckt, die eingebrochenen Latten müssen ersetzt und festgenagelt werden, ,.Fürst und Geräthe“ sind frisch in Speis zu fassen. Ober die Reparaturkosten wurde man nicht einig. Da entscheidet der Dekanatsverweser Hirt 1839 : Die Schulden sollen durch milde Beiträge oder durch die Gemeindekasse beglichen werden, oder „solche Kapelle möge eingerissen werden“. Dieses Unglück wird abgewehrt, die Liebe zur Kapelle siegt. -1841 verschwindet das runde Fenster am Westgiebel. Eisen und Blei wird verkauft und Wände und Decke werden „ausgeweißelt“ -1950 folgt die Weihe einer neuen Kapellenglocke; ihre Vorgängerin von 1737 wird im ersten Weltkrieg eingezogen und stirbt den Heldentod, damit wir den Sieg erhaschen. -Da erklärt sich der Kirchenrechner Friedrich Mayer bereit, die Kosten für ein neues Glöcklein auf sich zu nehmen zum Dank dafür, daß seine Söhne wohlbehalten aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Darum auch die Glockeninschrift : „O Mutter der Schmerzen, wir danken von Herzen für Rettung im Krieg; Gib ewigen Sieg.“ Dann werden vier neue Fenster eingesetzt und durch Kirchenmaler Ludwig Amann kommt eine Generalrestaurierung zustande. So steht die Kapelle da vor dem westlichen Dorfeingang und will dem Fremden einen Willkommgruß sagen und den Dorfbewohner zum Besuche einladen. Und wir folgen der Einladung.
Ein streifender Blick vor dem Eintritt gilt der Außenseite : Ein rechteckiges Langhaus und eingeschnürter Chor (außen 3/8 Schluß, im Innern Rundform). Vergessen wir Nachgeborene nicht den Dank, den wir dem ländlichen Kapellenmeister schulden, und den Respekt, auf den er Anspruch besitzt, wenn er aus den begrenzten Voraussetzungen eines abseitigen Daseins sich emporgerafft hat zum Planer und Schöpfer einer Kapelle, die in handwerkli,cher Feinkunst sich wohl sehen lassen kann.
Wir öffnen die Eichentüre (vom J. 1952) und werden gefangen genommen vom weißen und hellen Lichte, das ausgestrahlt wird von den Wänden und der Decke, die dekoriert ist mit hellem Kalk-kasein-Anstrich. Die Fenster sind wasserklar mit Ausnahme der goldgelben Scheibe über dem Altar, die einstmals Glaser Jerg Hirlinger samt Blei und Zinn für anderthalb Gulden eingesetzt hat. Es ist eine Wallfahrtskapelle, und die Augen werden gar bald magnetisch angezogen vom Gnadenbild der schmerzhaften Muttergottes. Der Schnitzmeister, der es gefertigt hat, wird in keiner Urkunde genannt. Nur die Jahreszahl „1735″ ist in schwarzer Farbe auf der Rückseite zu lesen.
Der Künstler hat dem Leichnam, der auf dem rechten Knie der sitzenden Mutter ruht, alles Schwere und Steife genommen. Gesicht und Oberkörper sind nach vorne gewendet, der rechte Arm hängt schlaff wie im Schlafe abwärts, der linke Arm wird von der Mutter gehalten, die Füße knieabwärts berühren den Boden. In der ganzen Muskelbehandlung ist noch kein Zeichen von Leichenstarre zu merken. Nirgends ist eine Andeutung der vergangenen Schmerzen und der Todesqualen, selbst die Zeichen der Wundmale sind fortgelassen. -Auch bei der Wiedergabe der Mutter ist jede Spur von krampfhafter Aufregung vermieden. Der Blick ihrer Augen gilt nicht mehr dem großen Toten, er geht hinaus in die Welt und deutet an, daß für sie der Höhepunkt der Qualen überstanden und Ruhe und Stille eingezogen ist in ihrer Seele. Nur ein Schwert weckt den Gedanken an alles, was über sie gekommen ist in den letzten Stunden. Gestalt und Haltung weist darauf hin, daß jedes Leid geadelt und erleichtert werden kann durch die Hingabe an des Ewigen Willen.
Die Christus-Mariengruppe steht in einer Nische mit Muschelabschluß nach oben und ist umziert von einem Rahmen mit sieben Kartuschen, auf denen die sieben Marienschmerzen dargestellt sind. Die Minibildchen sind signiert und verraten uns wahrscheinlich die Stifter als Mitglieder einer Familie Wälder ( .. Welder“). An der Altarpredella ist das Lamm Gottes mit den 14 Leidenswerkzeugen und mit der Inschrift: .,dis Lamm, o Christ, zurufet dir: nimm auf dein Kreuz und folge mit“. Flankiert wird das Kultbild von zwei rötlich mormorierten Säulen, deren glatter Schaft in halber Höhe je eine Kartusche trägt mit geflügeltem Engelskopf. Die Säulenhäupter (Kapitäle) tragen auf schmuckem Gesims einen goldenen Blätterkranz mit Engelsköpfen als Einfassung für das kleine gelbe Fenster.
Die Flachdecke des Langhauses ist geziert mit einer Stuckleiste und einem Bild von der Krönung Mariens durch die drei Gottespersonen. Johann Baptist Sommer, geboren in Aulendorf, der später eine bescheidene Kunstwerkstätte in Trochtelfingen einrichtete, hat es geschaffen, die vier Ecken der Kapellendecke schmückt er mit den Zeichen (,.Symbolen“) der Evangelisten. Auch ein Maler Johann Schlander wird in den Bauakten der Kapelle genannt; er bekommt „vor (für) ein schild (Kleinbild) an dem Altar (die Kreuzigung Christi) einen Gulden und 30 Kreuzer. Scheinbar ist er schon in höherem Alter. Adam Kraus (Hohenz. Heimat 1957) weiß zu melden, daß er 1718 ein Haus in Trochtelfingen gekauft habe. An der Decke des Chorraumes ist ein neuzeitliches Bild der Immaculata von Kirchenmaler Gebhard Schmid! (1960).
Zum äußeren Aufbau gehört auch eine innere Auszierung. Darum eine kurze Umschau im Raume. An der Nordseite gegenüber dem Eingang ist ein Darstellung von „Anna selbdritt“ zu sehen, ein Werk des Melchinger Künstlers Jakob Maichle aus dem Jahre 1853. Auf derselben Nordseite ist ein Ölbild auf Leinwand von der Krönung Mariens, dessen Geburt um 1790 gewesen sein mag. Das Bild gehört nicht zum ursprünglichen Inventar der Kapelle, es wird wohl eine alte Altartafel gewesen sein, die nach längerer Wanderschaft einen Ruheort gefunden hat in der stillen Marienklause zu Melchingen auf der Alb. -Aufgefrischte Kreuzwegbilder zieren die Westwand (ÖI auf Leinwand), ca. 1830, Für diesen kleinen Raum waren sie anfänglich sicherlich nicht bestimmt, höchstens für die Nischen der Gottesackermauer bei der Pfarrkirche. Als sie dort ihren Dienst lange genug getan in frischer Luft, im Winter und Hochsommer, bei Sturm und Regen, und schadhaft geworden waren, hat man sie in den Ruhestand versetzt und ihnen ein stilles Plätzchen angewiesen in der Kapelle, und die Dorfkirche blieb stationslos bis 1903.
Die Kapelle ist bescheidene Wallfahrtsstätte, die besonders an Sonntagen gerne besucht wird. Darum kann man an der Südwand zahlreiche Votivbilder als Dankzeichen für erhörte Gebete und Wünsche sehen. -Hochfest in der Kapelle ist am Freitag vor dem Palmsonntaq mit feierlichem Gottesdienst; am Abend wird bei Kerzenschein eine Andacht geboten, die wohl einzig ist im Schwabenland. Ihr Ursprung liegt mehr als 150 Jahre zurück. Sie hat sich bis in die Gegenwart in ihrem altertümlichen Zustand und ihrer sprachlichen Form erhalten. Die ungeschriebene Melodie ist bizarr und hyperbarock, dem Wortkolorit nach könnte die Andacht zurückgehen bis in die Zeit, wo ein Pater Sebastian Sailer sein vielgerühmtes Rednertalent entfaltete und in schwäbischer Mundart seine Kommödien dichtete. Eine Kostprobe aus einem Liede dieser Andacht sei geboten :
„Schmerzhafteste Mutter“ ,,Abschlags uns doch nit“,
,,Wenn wir im Tod kämpfen“ ,,So streite auch mit“.
„Und richte zu Grund“ „Den höllischen Hund“
„Verstopfe dem Satan“ „Seinen teuflischen Schlund“.
An der Außenseite der Kapelle stehen zwei niedere Kreuzsteine. Entweder sind es Sühnekreuze, die wegen verübter Freveltat und Mord in Verbindung mit anderweitigen Bußen gesetzlich aufgestellt werden mußten, oder es sind Marken und Zeichen, die in den Gemeinden, in Feld und Wiesen die Grenzen anzeigten.